Ratgeber: Schulung der Sinneswahrnehmung

Als Kinderphysiotherapeutin behandle Ich viele Babys mit leichten sensorischen Problemen oder sogar sensorischen Integrationsstörungen. Dabei sind ein oder mehrere Sinne in ihrer Reizaufnahme oder -verarbeitung gestört. Diese Störungen können sich unterschiedlich stark ausprägen und bemerkbar machen. Oft haben sie auch Einfluss auf die motorische Entwicklung und das Verhalten des Kindes. Diese sind oft unruhig und quengelig oder schlafen schlecht.

Im Folgenden verschaffe Ich einen kleinen Einblick in die Entwicklung und Funktion der Sinneswahrnehmung und gebe Euch ein Paar Tipps wie Ihr das jeweilige Sinnessystem selber zu Hause beüben könnt. 
Wenn Ihr Euch unsicher seid oder Euer Baby eine sensorische Integrationsstörung hat, bittet Euren Kinderarzt um Rat oder lasst Euch eine Verordnung für Physiotherapie oder Ergotherapie ausstellen. 

Sensorik = Sinneswahrnehmung

Ein Kind hat sieben Sinne, welche zur Wahrnehmung und Verarbeitung von äußeren Reizen dienen. Die aufgenommen Informationen werden an das Gehirn weitergeleitet, welches dann eine entsprechende Reaktion veranlasst. 
Eine gut funktionierende Sinneswahrnehmung wirkt sich positiv auf die Entwicklung eines Kindes aus. Bei der Geburt sind zwar alle Sinne schon vorhanden, doch in der Interaktion mit der Umwelt werden sie nach und nach noch besser entwickelt. Darum solltest Du schon ab der ersten Lebenswoche versuchen Deinem Baby immer wieder neue Sinneserfahrungen zu bieten. Dazu gehören zum Beispiel viel Körperkontakt und Ansprache. Aber auch Musik und bestimmte Spielzeuge können dazu beitragen. Achte nur darauf, dass Du Dein Kind nicht mit zu vielen Reizen überforderst. Es sollten immer Ruhephasen auf viele Sinneseindrücke folgen, damit Dein Kind die Möglichkeit hat diese zu verarbeiten.

Die sieben Sinne

  • Sehsinn = Visuelles System
  • Hörsinn = Akustisches System
  • Geruchssinn = Olfaktorisches System
  • Geschmackssinn = Gustatorisches System
  • Tastsinn = Taktiles System
  • Tiefensinn = Propriozeptives System
  • Gleichgewichtssinn = Vestibuläres System

Das visuelle System

Über den Sehsinn können Farben, Formen und Bewegungen wahrgenommen werden. Da das Auge von Muskeln gehalten und bewegt wird, bedarf es eines optimalen Spannungszustandes der Augenmuskulatur um optimal sehen zu können. Ein Neugeborenes kann nicht von Anfang an scharf sehen, da es dafür die Augenmuskulatur erst trainieren muss. Die ersten Wochen kann ein Kind auf einen Abstand von ungefähr 20 cm scharf sehen (das ist die ungefähre Entfernung zwischen der Brust beim Stillen und dem Gesicht der Mutter). Für weitere Abstände ist die Muskulatur noch nicht stark genug und die Augenbewegung kann noch nicht koordiniert werden. So kommt es häufig zum Schielen. Es dauert ungefähr sechs Wochen bis die Koordination funktioniert und somit auch das natürliche Schielen nach und nach weniger wird. Je älter das Kind wird, desto mehr trainiert es seine Augenmuskulatur. Erst im Kindergartenalter ist die individuelle Sehfähigkeit vollständig entwickelt.

Tipps und Übungen

  • Da ein Neugeborenes in den ersten Wochen nur einen Abstand von ca. 20 cm scharf sehen kann, ist das richtige Stillen so wichtig. Hierfür eignen sich Stillkissen besonders gut.
  • Erst ab dem 4. Lebensmonat kann ein Kind Farben gut erkennen und unterscheiden. Trotzdem reagieren Babys vorher schon gut auf die Farbe rot. Darum eignen sich besonders rote Spielzeuge für die ersten Lebenswochen.
  • Viele unterschiedliche visuelle Reize zum Üben bietet ein Spielbogen.
    Hier erfährst du mehr über Spielbögen.

Das taktile System

Die Hauptaufgaben des Tastsinns sind das Empfinden und Differenzieren von Temperatur, Druck, Berührung und Schmerz. Er entwickelt sich als erstes sensorisches System im Mutterleib. Bereits in der 12. Schwangerschaftswoche ist der Tastsinn am ganzen Körper aktiv. Trotzdem muss er sich auch nach der Geburt noch weiter entwickeln und ist erst nach dem zweiten Lebensjahr vollständig ausgebildet
Die Rezeptoren für die taktile Sinnesaufnahme liegen in der ganzen Haut, vor allem aber in Lippen, Zunge, Fingerspitzen und Fußsohlen. Darum erkunden Babys ihre Hände, Füße und Spielzeuge auch so gerne mit dem Mund. 

Tipps und Übungen

  • Um den Tastsinn Deines Kindes zu schulen, eignet sich zum Beispiel ein Fühlbuch.
  • Besonders viele taktile Reize bietet eine Erlebnisdecke
  • Aber auch das gemeinsame Spielen mit Händen und Füßen auf dem Schoß der Eltern schult das taktile Sinnessystem.

Das propriozeptive System 

Über die Tiefenwahrnehmung oder auch Eigenwahrnehmung nehmen wir genau wie beim Tastsinn Druck und Spannung wahr. Dies passiert jedoch nicht auf der Haut, sondern im Körperinneren. Dazu gehören:
– Die Position des Körpers im Raum.
– Die Stellung der Gelenke und des Kopfes.
– Der Anspannungszustand der Muskulatur und Sehnen.
– Das Bewegungsempfinden und das Erkennen der Bewegungsrichtung.
Das propriozeptive System ist für die motorische Entwicklung von größter Bedeutung. Damit es sich optimal entwickeln kann, brauchen Babys viel Bewegung und Hautkontakt. Hüpfen, tanzen und kuscheln schulen zum Beispiel die Tiefenwahrnehmung. 

Tipps und Übungen

Wenn Dein Kind oft sehr unruhig und quengelig ist oder nicht gut einschlafen kann, kann das darauf hindeuten, dass seine Tiefenwahrnehmung noch nicht gut entwickelt ist. Folgende Tipps können Dir und Deinem Liebling helfen die Eigenwahrnehmung zu verbessern und sich somit mehr zu entspannen:

  • Das Tragen in einem Tragetuch oder einer Babytrage übt nicht nur einen angenehmen Druck auf den Körper deines Babys aus, durch deine eigenen Bewegungen wird der Tiefensinn zusätzlich geschult. Du darfst auch ruhig etwas Hüpfen und Dich Drehen oder Schaukeln, das liefert zusätzliche Reize. 
  • Vielen Kindern hilft eine Therapiedecke beim Schlafen oder auch um tagsüber zur Ruhe zu kommen. Die Decke übt einen gleichmäßigen und angenehmen Druck auf den Körper aus und hilft so das propriozeptive System zu schulen. Hier erfährst du mehr über Therapiedecken.
  • Eine andere Alternative dafür ist das Pucken mit einem Puckschlafsack
  • Nach dem Baden kannst du dein Baby fest in ein Handtuch einrollen.
  • Eine weitere tolle Möglichkeit die Eigenwahrnehmung zu schulen, ist eine Babymassage. Mit einem Baby-Massageöl und sanftem Druck von Mamas Händen, entspannt sich dein Liebling sicherlich ganz schnell. 

Das vestibuläre System

Der Gleichgewichtssinn nimmt jegliche Verlagerung des Körpers im Raum wahr und prüft, ob eine motorische Antwort zum Ausgleich erfolgen muss. Er ist also wichtig für die Orientierung im Raum, die Aufrechterhaltung des Körpers und die Bewegungen gegen die Schwerkraft. Das vestibuläre System arbeitet eng mit dem visuellen und dem propriozeptiven System zusammen und hat Auswirkungen auf Koordination, Kontrolle und Aufmerksamkeit
Die Ausbildung des Gleichgewichtsinns beginnt schon im fünften Schwangerschaftsmonat. Darum sollte sich eine werdende Mutter viel bewegen. Lageveränderungen des Bauches und die eigenen Strampelbewegungen des ungeborenen Kindes stimulieren den Gleichgewichtssinn schon im Mutterleib. Doch auch nach der Geburt ist es wichtig weiter daran zu arbeiten, denn sonst kann sich eine Über- oder auch Unterempfindlichkeit entwickeln. Ist ein Kind vestibulären Reizen gegenüber überempfindlich, so kann sich dies durch schnellen Schwindel, aber auch in sehr zögerlichen Bewegungen äußern. Besonders auf instabilen Untergründen oder bei schnellen Bewegungen fühlt es sich dann unwohl. Bei Unterempfindlichkeit dagegen, sucht es sich pausenlos vestibuläre Reize, ohne dass ihm jemals schwindelig wird.

Tipps und Übungen

Um den Gleichgewichtssinn Deines Kindes früh zu fördern, solltest Du ihm möglichst unterschiedliche Bewegungsreize bieten. 

  • Eine tolle Möglichkeit hierfür sind Hängematten oder Federwiegen.
  • Aber auch das gemeinsame Schaukeln in einem Schaukelstuhl ist gut geeignet.
  • Wenn Dein Kind alt genug ist, kannst du ihm mit einer Kinderschaukel sicherlich eine Freude machen.
  • Übungen bei denen das Baby hochgenommen und frei im Raum gehalten wird schulen das vestibuläre System auch gut.

Fazit

Egal wie alt Dein Kind ist und ob es Probleme mit der Sinneswahrnehmung hat oder nicht, eine aktive und bewusste Schulung hat immer Vorteile für die Entwicklung Deines Kindes. Und die schönste Übung, das gemeinsame Kuscheln, fördert nicht nur die Weiterentwicklung Eurer beider Sinnessysteme, sondern auch Eure Bindung.

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